- Bei SPD-Zukunftswerkstatt Entwicklungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt kritisiert
CALW. Der Heilbronner SPD-Bundestagsabgeordnete Josip Juratovic empfindet den Arbeitsmarkt als ein Kastensystem: „Führungskräfte - Festangestellte - befristet Beschäftigte – Leiharbeiter, und die sind die Unberührbaren.“ analysierte der Europaberichterstatter des Ausschusses für Arbeit und Soziales im Deutschen Bundestag die Arbeitswelt mit spitzer Zunge. Die Ausweitung von Leiharbeit, von befristeter und geringfügiger Beschäftigung („Minijobs“) habe sich verselbständigt. Gerade Automobilzulieferer unter Kostendruck arbeiteten inzwischen mit 30 bis 40 Prozent Leiharbeitern, das machte Juratovic bei der SPD-Zukunftswerkstatt zur Leiharbeit vergangene Woche in Calw deutlich. „Das ist gesellschaftlich eine echte Katastrophe“, sagt die SPD-Kreisvorsitzende Saskia Esken, die auch in Calw von einem Unternehmen weiß, das trotz guter Auslastung und Marktposition immer stärker auf die Leiharbeit setze, zuletzt zu fast 50 Prozent. „Das kann doch irgendwann nicht mehr gut gehen, auch betriebswirtschaftlich nicht“, glaubt Esken.
635000 Beschäftigte hat die Zeitarbeitsbranche in Deutschland im März 2010 gehabt, und die Zahlen steigen: 80% der neuen Arbeitsplätze entstehen laut Bundesagentur derzeit in der Zeitarbeit. „Es gibt Prognosen, dass wir bis zu 1,5 Millionen Beschäftigte im Zeitarbeitsgewerbe bekommen“, berichtet Juratovic. Die Branche gehe sogar von einem Wachstum von 700 bis 800% aus, so ein Insider bei der Zukunftswerkstatt im Centro Portugues. In seiner Branche gebe es leider zu viele schwarze Schafe, so der Personaldienstleister: „Die verantwortungsbewussten Firmen plädieren inzwischen genauso für eine neue Regulierung der Zeitarbeit, um endlich das schlechte Image loszuwerden.“ In der regen Diskussion wurde deutlich, dass vor allem die gesellschaftlichen Folgen der Leiharbeit Grund zur Sorge bereiten: Auch bei guter Bezahlung haben Zeitarbeitskräfte nach Juratovics Beobachtung unter der unsicheren Perspektiven zu leiden. Mit einer Zeitarbeitsfirma als Arbeitgeber sei es fast unmöglich, eine gute Wohnung oder einen langfristigen Kredit zu bekommen. Die Solidarität der Mitarbeiter untereinander gehe verloren und die Arbeit der Betriebsräte, die Mitbestimmung werde geschwächt. Ein gewerkschaftlich organisierter Gast der Zukunftswerkstatt machte die Verrohung der Arbeitskultur und der Sprache deutlich: „Im Betrieb sprechen wir vom Ausfassen von Zeitarbeitskräften, so wie man sich im Büromateriallager einen Bleistift holt“. „Anfangs habe ich die Leiharbeit eher positiv gesehen“, sagt der gelernte Kfz-Mechaniker Juratovic, der viele Jahre bei Audi in Neckarsulm in der Lackiererei am Fließband und dann im Betriebsrat gearbeitet hat. Seit 2005 sitzt er im Deutschen Bundestag und ist mit seiner kroatischen Herkunft ebenso wie mit seinen Wurzeln in der Arbeiterschaft dort eher ein Exot. Die rot-grüne Bundesregierung unter Schröder habe die Leiharbeit dereguliert, damit Unternehmen „vorübergehende Engpässe“ abfedern könnten. Auch sollte den Menschen nach längerer Arbeitslosigkeit der Weg zurück in den Arbeitsmarkt geebnet werden. „Die Leiharbeit hat jetzt aber eine Dimension erreicht, die damit nicht mehr gerechtfertigt werden kann – und sie wächst immer weiter“, sagt der Sozialdemokrat selbstkritisch und fordert deshalb neue Regeln für die Leih- und Zeitarbeit ebenso wie für befristete Beschäftigung und Minijobs. Es gibt auch Gewinner des Systems Leiharbeit, das machte ein anderer Teilnehmer deutlich: Er war nach einer Phase der Leiharbeit übernommen worden. Kritik gab es dagegen für die teilweise horrenden Ablösesummen, die einen Übergang in den regulären Arbeitsmarkt erschweren. Ebenso aus der Praxis kam der Hinweis, die Sicherheitseinweisung von Leiharbeitern sei nach dem Gesetz Sache der Leiharbeitsfirma. Da dies häufig versäumt werde, mache man als Entleiher oft selbst – und bewege sich damit im rechtsfreien Raum. „Ich kann es aber doch gar nicht verantworten, die Leute bei uns arbeiten zu lassen, ohne dass sie über die Sicherheit im Betrieb und das richtige Verhalten im Notfall Bescheid wissen.“ Leiharbeitnehmer haben in Deutschland grundsätzlich ein Recht auf die gleiche Bezahlung wie die Stammbelegschaft des entleihenden Unternehmens – es sei denn, für sie gilt ein eigener Tarifvertrag. „Das hat zu einer Verbreitung von Scheingewerkschaften geführt, die nur dazu gegründet werden, um gleiche Rechte und gleiche Bezahlung zu unterlaufen.“ schimpfte ein Teilnehmer. Dramatisch könnte sich dieser Fehler im System auswirken, wenn im Mai 2011, also schon in einem halben Jahr, die Begrenzung der Freizügigkeit auch für Arbeitnehmer aus osteuropäischen Ländern fällt. „Schon heute erhalten Handwerksfirmen in der Region Angebote für Leiharbeiter zu 2,50 Euro Stundenlohn und wissen nicht, wie sie sich dieser Konkurrenz erwehren sollen.“ berichtet Saskia Esken vom Handwerkerforum und beklagt, dass die Regierung für diese Bedrohung bisher keine Antwort habe. „Auch zum Schutz vor solchen Dumpingangeboten brauchen wir endlich einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn, der für alle Branchen Gültigkeit hat“ – für diesen Schlusssatz erhielt Juratovic die ungeteilte Zustimmung, bevor sich Esken mit einer großen Tafel Schokolade bei dem Heilbronner für sein Kommen und den interessanten Vortrag und bei den Gästen für die angeregte Diskussion bedankte. Bericht zur Veranstaltung